Ein Meister hatte zwei Gesellen. Der eine legte Wert auf Ordnung, kam früh zur Arbeit und selbst in dem Gartenstück, das jeder von ihnen zu pflegen hatte, wuchs kein unerwünschtes Kraut. Der andere hingegen betrat oft erst spät die Werkstatt, verlegte öfters ein Werkzeug und in seinem Garten standen Blumen und Gemüse eher wild durcheinander. An dem Tag, als der Meister seine Gesellen auf Wanderschaft schickte, übergab er jedem eine Tafel. Er bat sie, zu Lern- und Übungszwecken darauf die schönsten Dinge festzuhalten, denen sie begegneten auf ihrer Reise. Denn neben Gebrauchstüchtigkeit und Güte der Werkstücke, die sie in ihrer Werkstatt herzustellen gelernt hatten, legte der Meister großen Wert auf deren Schönheit, wenngleich er nur selten darüber sprach. Bald machten sich beide auf und jeder ging seiner Wege.
Als der erste Geselle nach einigen Jahren zurückkehrte, stolperte er beim Eintreten über die Türschwelle und seine Tontafel zerbrach in sieben Teile. Der Meister, bereits schlafend, erfuhr zunächst nichts vom Missgeschick seines Schülers, der in den folgenden Tagen und Nächten fieberhaft versuchte, seine Tafel wieder zusammenzusetzen. Zu seiner Freude entstand dabei eine große Zahl überraschend schöner Figuren und Bilder. Erst jetzt, am Ende seiner Reise, wurde ihm klar, dass er nun selbst und aus sich heraus in der Lage war, Formen und Figuren voller Schönheit zusammenzufügen und sogar neue zu schaffen.
Jahre später verstarb der Meister und der Geselle nahm dessen Platz ein. Manches Mal hatten sie noch über das Ausbleiben des anderen gesprochen, doch wussten sie, dass jeder nur seinen eigenen Weg gehen kann - bis auch er eines Abends vor der Tür stand. Bis tief in die Nacht berichtete er von Erlebnissen seiner Wanderschaft und seinen Versuchen, so viel Schönes wie möglich aufzuzeichnen auf seiner Tafel, doch er entdeckte, dass seine Aufgabe ihm viel schwerer fiel als ursprünglich geglaubt. Am nächsten Morgen fand der Geselle nicht nur Haus und Hof vom jungen Meister in bester Ordnung gehalten, sondern auch sein eigenes Gartenstück. An die schönste und sonnigste Stelle pflanzte er ein kleines Bäumchen, das er von seiner Reise mitgebracht hatte, dann setzt er seine Erzählung fort. Auch er hatte einige Zeit Schönes aller Art auf seiner Tafel festgehalten, bis er feststellen musste, dass er sich mit seinem Blick für das Schöne nur selten in Übereinstimmung befand mit anderen Menschen, denen er begegnete.
“Da begann ich nachzudenken, denn wollte ich ernsthaft alles Schöne sammeln, durfte ich mich keinesfalls auf das beschränken, was nur ich selbst für schön hielt. Ich entschloss mich herauszufinden, ob es etwas gäbe, was allen schönen Dingen gemein sei, also eine Art Wesen der Schönheit.“ Dazu, so berichtete er weiter, öffnete er seinen Blick noch weiter als bisher und achtete auf alles, wo Schönheit eine Bedeutung hatte. Besonders horchte er auf, wenn jemand über schöne Musik sprach, über eine schöne Geschichte oder den schönen Charakterzug eines Menschen. Was ihn allerdings wie nichts anderes freute und berührte, schien ihm zugleich auch das Rätselhafteste und Flüchtigste, nämlich die Schönheit eines Gesprächs.
Ob ihm denn auf seiner langen Reise niemals die Tafel zerbrochen sei, fragte ihn der Meister nach einer Weile. „Oh doch,” erwiderte er, “ich erinnere mich genau. Ich hatte von einer Insel gehört, auf der angeblich die klügsten und weisesten Menschen lebten, doch sei sie nur schwer erreichbar. Außerdem seien ihre Bewohner nicht sehr gastfreundlich und die meisten blieben gern unter sich, hieß es. Nach mühevoller Suche fand ich einen Kundigen, der mir die Route verriet und mir ein Boot besorgte, dem ich als Gegenleistung aber mein gesamtes Hab und Gut, mit Ausnahme der Tontafel, überlassen musste. So begab ich mich auf die Fahrt über das Meer, nicht ahnend, dass ich auf der Insel eine weitere, unerwartete Hürde zu überwinden hätte. Noch bevor ich einen Fuß ans Ufer setzen konnte, ließ mich ein herbeigeeilter Wächter wissen, ich dürfe das Land mit nichts mehr betreten als meinen Kleidern am Leib. ‘ “Wer auf dieser Insel Erkenntnisse erwerben möchte, muss Willens sein, all sein bisheriges Wissen hinter sich zu lassen,” musste ich erfahren. Wütend, enttäuscht, aber auch ent-schlossen schleuderte ich die Tafel zu Boden, wo sie in sieben Stücke zerbrach.”
Es sollte eine gewisse Zeit brauchen, so erzählte er weiter, bis er einen Sinn erkannte hinter diesem Verbot. Sehr bald allerdings machte er in den Auseinandersetzungen mit den Bewohnern der Insel recht irritierende Erfahrungen. Zum einen stellte sich heraus, wie sehr sein eigenes Sprechen und Denken Regeln unterlag, die zu entdecken ihm manchmal geradezu ungeheuerlich vorkam, und wie sehr selbst das noch junge, erst auf der Insel erworbene Wissen ihm oft als Vorurteil im Wege stand. Zum anderen kam er dahinter, dass er mit manchen Wörtern eher bloß herumhantierte, anstatt sie ordentlich zu gebrauchen wie ein Werkzeug. Dass er dabei oft nicht recht auf den Punkt kam, schien ihm an diesem Herumhantieren zu liegen.
All das verunsicherte und frustrierte ihn sehr. Doch bald gewöhnte er sich daran, zumal sich zeigte, dass das Schöne, wonach er suchte, viel mit dem Wahren und Guten zu tun hatte, das auch seinem Meister stets so wichtig war. Diesen Eindruck gewann er zumindest, wenn er den weisen Menschen dabei zuhören oder in ihren Schriften nachlesen durfte, wie sie im gedanklichen Austausch mit anderen und sich selbst darum rangen, diese Begriffe und Ideen in rechte Verhältnisse zu setzen. Am meisten bewunderte er dabei jene, die sogar versuchten dazu beizutragen, die rechten Verhältnisse auch in der Welt der Menschen zu verwirklichen, was ihm das aller schwierigste schien. Immer häufiger musste er jedoch erleben, wie gerade dabei die klügsten Denker auch im größten Widerstreit lagen miteinander und dass deren Streitgespräche oft wenig erhellend und meistens nicht einmal schön waren.
Der wichtigen Frage nach dem Wesen der Schönheit war er letztlich kaum näher gekommen und seine alte Sehnsucht nach schönen Gesprächen brach heftiger aus denn je. “Dies umso mehr”, fuhr er fort, “ desto besser auch ich gelernt hatte, Gespräche mit guten und schlagenden Argumenten zu führen, dabei aber selbst jede Schönheit vermisste und kaum noch einen Nutzen darin erkannte, ja nicht einmal zufrieden daraus hervorging. Diese Erfahrung hatte mich traurig gemacht und über die Maßen erschöpft. So entschloss ich mich, die Insel zu verlassen. Zu meiner Freude gab mir der Wächter am Tag des Abschieds die zerbrochene Tontafel zurück, die er sorgfältig wieder zusammengefügt hatte. Sie war wieder ganz, zeigte jedoch deutlich die einzelnen Bruchkanten. ‘ “Sie mag dir ein Zeichen sein dafür,”’ gab er mir mit auf meinen Weg, ‘“ dass jedes Wissen zerbrechlich ist.”‘
Nachdem der Geselle wieder auf dem Festland angekommen war, so erzählte er weiter, wanderte er los und erreichte bald jene Wälder, die er sich als Rückzugsort ausgewählt hatte. Er genoss deren Stille und fand auch bald selbst wieder zu innerer Ruhe, bis sich eines Tages eine große Lichtung vor ihm auftat, in deren Mitte eine Gruppe von Bäumen stand, die von außergewöhnlicher Schönheit waren. „Dabei waren sie von eigenartigem Wuchs und trugen zweierlei Früchte, die einen handtellergroß und rund, die anderen quadratisch und an meine Tafel erinnernd, auf der ich unverzüglich beide genauestens festhielt,” fuhr er fort.
„Na, gefallen dir meine Bäume?“, unterbrach mich ein alter Mann, dessen Herannahen ich nicht wahrgenommen hatte bei meiner Arbeit. Wie sich im Gespräch zeigen sollte, waren Bäume und Früchte das Ergebnis jahrelanger Veredelungsarbeit. Die runden seien Früchte des Lebens, die eckigen hingegen solche der Erkenntnis. Die schönsten neuen Bäume entstanden, das zeige seine Erfahrung, wenn eine Frucht des Wissens auf eine reife Frucht des Lebens traf.
Aus dieser Vereinigung, so hatte er beobachtet, entstand ein kräftiger Schössling, der fest mit der Erde verwurzelt war und während des Wachstums die Frucht des Wissens aufsprengte und durchwuchs. Jetzt erkannte ich einige dieser wie vom Zufall zusammengefügten Früchte, die die Form eines himmelwärts gerichteten Herzens zeigten. Gerührt und begeistert zugleich schoss mir ein schon lange gehegter Gedanke wieder in den Sinn, nach dem Schönheit und Weisheit viel mit Liebe zu tun haben und es entfuhr mir: “Ist es nicht so, dass die Herzen weiser Menschen ganz naturgemäß voller Risse und Narben sind von Verlusten und alten Verletzungen und das, was wir gemeinhin unter Liebe verstehen …?” Noch bevor ich meinen Satz zu Ende bringen konnte, hatte der Alte sich mürrisch abgewandt und verweigerte jeglichen Kommentar. Irritiert über diese Reaktion spürte ich doch den Wunsch, bei ihm zu bleiben und von ihm zu lernen. Wir einigten uns und so lehrte er mich, die Bäume zu pflegen. Abends, nach getaner Arbeit, saßen wir oft beieinander und erzählten uns Geschichten oder Ereignisse aus unserem Leben. Auch der Alte war weit gereist und hatte die meiste Zeit mit der Suche und Weitergabe von Wissen verbracht. “Irgendwann aber,” erklärte er eines Abends, “sah ich gerade darin eine Gefahr, denn viele Menschen glauben, vor allem im Denken, Anhäufen und Anwenden von Wissen liege der Schlüssel zum guten und rechtschaffenen Leben. Und auch jene, die sich ihren Gefühlen, Zweifeln oder strengen Askesen hingeben im Glauben, das Glück flöge ihnen auf diesem Wege zu, sie täuschen sich, wir brauchen beides: Eine klare und durchaus distanzierte Emotionalität, die gut zusammenwirkt mit unserer wohlwollenden, präzisen und warmherzigen Vernunft!”
Ich genoss diese abendlichen Gespräche sehr und aus ihnen erschloss sich für mich, welcher Sinn das Zerbrechen der Tafel hatte: Jedes Wissen ist fragmentarisch, hat eine Entstehungsgeschichte und eine Funktion. Wissen verspricht Gewissheit zu verschaffen und damit ein elementares Bedürfnis zu erfüllen, das der Sicherheit.
Nun war ich in einer Welt groß geworden, in der man seit Jahrtausenden versucht hat, durch Beobachten und Nachdenken immer größere Gewissheit zu erreichen im Bezug auf unsere Wahrnehmungen, unsere Überzeugungen und unsere Urteile, ohne jedoch ernsthaft die Tatsache in den Blick zu bekommen, wie überaus wichtig neben den Fakten und dem Denken auch unser Fühlen ist mit all seiner Flüchtigkeit und Wechselhaftigkeit. Denn Gefühle mögen sich schnell ändern, niemals aber die dahinter verborgenen Bedürfnisse. Deshalb ist es mir wichtig geworden, besonders in Konflikten meine Worte nicht nur sorgfältig auf ihre allgemeine Bedeutung hin zu prüfen sondern auch darauf, ob sie in diesen aktuellen Augenblick passen. Manche Wörter muss ich dazu regelrecht aufbrechen und neu zusammensetzen, denn viele von ihnen sind von alters her fest gefügt und ich benutze sie aus guter Gewohnheit. Erst wenn mir Wort und Sinn stimmig scheinen für den aktuellen Gebrauch, dann übernehme ich es. Denn erst dann kann ich aus eigener Verantwortung heraus sagen: Das meine ich hier und jetzt damit! Mit derart geklärten Begriffen hantiere ich nicht bloß irgendwie herum, sondern ich kann viel präziser über Fakten, Sachverhalte, Gefühle und Bedürfnisse für mich selbst klar und für andere verständlich sprechen. Doch zuvor ist es unabdingbar, mir selbst erst einmal Zugang zu verschaffen zu meinen aktuell lebendigen Bedürfnissen, was nur über eine kluge Selbstwahrnehmung gelingt. Diese Art der Wahrnehmung, bei der ich Denken und Gefühle immer wieder aufs Neue in erhellender, sinnstiftender und dem Leben dienender Weise zusammenführe, lernte ich erst bei dem alten Meister im Wald.
Doch um aus meiner ganz gewöhnlichen menschlichen Fähigkeit hierzu schließlich durch Lernen zu einer wirklich alltagstauglichen Fertigkeit zu gelangen, bedarf es täglicher Übung, ganz so, wie veredelte Bäume der regelmäßigen Pflege bedürfen, um gute Früchte zu tragen. Durch diese Art, mit mir selbst und anderen in empathischen und wertschätzenden Kontakt zu kommen, erschließe ich mir auch einen ganz neuen Blick auf das mir Wesentliche im Leben, mein Verständnis von Freiheit, Selbstverantwortung und Liebe.